Asset Allocation in Zeiten einer Multi-Krise – Interview mit Tilmann Galler
Tilmann Galler ist Kapitalmarktstratege bei JP Morgan Asset Management. Im Interview spricht er über die Asset Allocation in Zeiten einer Multi-Krise und die Anlagechancen, die sich aus dem aktuellen Marktumfeld ergeben.
Herr Galler, worauf müssen sich Anleger nach einem schwierigen ersten Halbjahr in den kommenden Monaten einstellen?
Das erste Halbjahr war insofern besonders, als dass fast alle großen Anlageklassen – bis auf Rohstoffe und Hedgefonds – eine negative Entwicklung zu verschmerzen hatten. Der starke US-Dollar hat diese für global investierte Euro-Anleger zwar noch etwas abgemildert, aber die hohe Inflation hat die klassische Korrelation zwischen Aktien und Renten streckenweise außer Kraft gesetzt. Anleger werden nicht umhinkommen, ihre Portfolios noch breiter zu diversifizieren, um ihre Risiken zu verringern.
Wir befinden uns aktuell in einer Art Multi-Krise. Droht 2022 jetzt noch eine echte Rezession?
Während in den USA vor allem das verarbeitende Gewerbe auf ein kritisches Niveau abgerutscht ist, sind in Europa zusätzlich das Verbrauchervertrauen und der Einkaufsmanagerindex für Dienstleistungen „tiefrot“. Der Arbeitsmarkt zeigt sich dagegen weiterhin sehr robust, was den Konsum weiter stützen sollte. Die Kombination aus Inflation, Straffung durch die Fed und höheren Hypothekenzinsen stellt sicherlich einen Gegenwind für die US-Wirtschaft dar. Es ist in den USA in diesem Jahr aber eher eine technische Rezession zu erwarten, statt eines tieferen Abschwungs zumindest, solange die Beschäftigungslage weiterhin so gut ist.
Welche Veränderungen ergeben sich konkret für die Asset Allokation?
Im inflationären Umfeld wird man neue Wege gehen müssen. Die Diversifikation zwischen Anleihen und Aktien funktioniert nicht mehr wie in den vergangenen 20 Jahren, in denen wir es strukturell mit einer negativen Korrelation zu tun hatten. Die Korrelationen beginnen wieder ins Positive zu wandern, das heißt Diversifikationseffekte lassen nach. Das bedeutet aber auch, dass man für die Defensive im Portfolio nach Neuem Ausschau halten muss.
Apropos Defensive: Müssen Anleger mit einer anhaltend straffen Zinspolitik der Notenbanken rechnen?
Ich erwarte, dass die Kerninflation nun ihren Höhepunkt erreicht hat. Auf längere Sicht dürften sowohl die Wachstums- als auch die Inflationsdynamik darauf hindeuten, dass die Fed auf dem Weg ins Jahr 2023 weniger aggressiv vorgehen muss. Für die Märkte stellen die Herabstufungen der Gewinnprognosen, die das schwächere makroökonomische Umfeld besser widerspiegeln sollen, in den kommenden Monaten immer noch ein Risiko dar, aber die Anleger werden sich mit der Tatsache trösten, dass die aggressivsten Schritte der Fed nun hinter uns liegen könnten. In Europa, wo der Krieg in der Ukraine und die Risiken der Energieversorgung die Rezessionsrisiken noch stärker erhöhen, sollten die Anleger nicht zu große Zinsschritte erwarten.
Welche Anlagechancen bieten sich in diesem Umfeld für Anleger?
Die Aktienkursrückgänge haben ein Ausmaß angenommen, das durchaus mit einem Rezessionsumfeld assoziiert werden kann. Allerdings sind bisher relativ wenige Abwärtsrevisionen bei den Gewinnerwartungen zu sehen. Wir erwarten im Fall einer tieferen Rezession deutlich stärkere Gewinnrückgänge, als sie aktuell erwartet werden. Vor diesem Hintergrund haben die jüngsten Kursverluste die Überbewertung an den Aktienmärkten beseitigt, aber eine Rezession ist noch nicht eingepreist. Doch für Investoren wurde langfristige Werthaltigkeit geschaffen.
Gibt es andere Assetklassen, die Sie für aussichtsreich halten?
Es spricht einiges dafür, dass gerade bei den Rohstoffen, die einen direkten Bezug zu den nachhaltigen, sauberen Technologien haben, ein Superzyklus bevorsteht. Der Bedarf und die Nachfrage werden hier in den nächsten Jahren stark zunehmen. Meines Erachtens beschleunigt der Krieg in der Ukraine diesen Trend. Denn jetzt ist insbesondere Europa bewusst geworden, dass man sich von fossilen Brennstoffen unabhängiger machen muss. Aber man darf nicht vergessen, dass erneuerbare Technologien sehr rohstoffintensiv sind. Ich denke daher, dass Rohstoffe in einem inflationären Umfeld eine wichtige Beimischung sind. Aber das wichtigste ist, dass man auf der Investorenseite versteht, dass das Thema Nachhaltigkeit nur mit den Rohstoffunternehmen gelingen kann und nicht gegen sie.
Was raten Sie Anlegern, die Sorge vor einer bevorstehenden Rezession und steigenden Volatilitäten haben?
Die Aktienkursrückgänge haben ein Ausmaß angenommen, das durchaus mit einem Rezessionsumfeld assoziiert werden kann. Zur Absicherung gegen die erwartete Volatilität haben wir die Duration bei Anleihen aus einer untergewichteten in eine neutrale Position umgeschichtet. Unsere Präferenz liegt bei qualitativ hochwertigen Anleihen, auch im Unternehmensanleihensektor. Wir sehen den Sektor zwar fundamental gut aufgestellt, denn die Unternehmen haben die Niedrigzinsphase genutzt, um sich langfristig durchzufinanzieren. Aber im Fall einer Rezession wird das eine oder andere Unternehmen aufgrund der wegbrechenden Gewinne Probleme haben, die Coupons zu bedienen. Auf der Aktienseite präferieren wir weiterhin Substanzwerte, ebenso wie Dividendentitel. Die von uns bevorzugten Regionen sind die USA, Großbritannien und asiatische Aktien. Es ist weiterhin sinnvoll, im Markt zu sein, allerdings mit einer neutralen Gewichtung. Solange die Rezessionsrisiken größer werden, ist es noch zu früh, Aktien überzugewichten.